Kontinentalphilosophie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Kontinentalphilosophie (englisch continental philosophy) ist ein vor allem in der englischsprachigen Philosophie gebräuchlicher Sammelbegriff für verschiedene Strömungen der in Kontinentaleuropa (insbesondere Deutschland und Frankreich) betriebenen Philosophie, denen gemein ist, dass sie in empirisch und logisch-analytisch geprägten Schulen, wie sie lange Zeit im angelsächsischen Raum vorherrschten, kaum Anklang gefunden haben. Teils werden auch andere Unterscheidungskriterien, etwa methodischer, inhaltlicher oder institutioneller Art, vorgeschlagen.

Kontinentalphilosophie umfasst ein weites Spektrum sehr unterschiedlicher philosophischer Schulen. Dazu zählen der deutsche Neohegelianismus, die Phänomenologie, die Hermeneutik, die Werke Schopenhauers, Nietzsches und Kierkegaards, verschiedene Spielarten des Marxismus, die Kritische Theorie, die Psychoanalyse, die französische Existenzphilosophie, Strukturalismus, Dekonstruktion und Poststrukturalismus sowie der Feminismus französischer Prägung. Viele dieser kontinentalen Denker oder Schulen werden aus Sicht einiger dezidiert analytischer Philosophen kritisch beurteilt, etwa, weil die vertretenen Positionen unklar und unpräzise dargestellt, nicht überprüfbar oder unplausibel seien. In derartigen Beurteilungen wird der Ausdruck Kontinentalphilosophie oft pejorativ verwendet.

Problem der Eingrenzung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In den letzten Jahrzehnten wird eine Grenzziehung zwischen „analytischer“ und „kontinentaler“ Tradition, Schulbildung oder Methode von verschiedenen Seiten aus unterschiedlichen Motiven und Gründen problematisiert.[1] So werden beispielsweise Positionen, die sich klar „kontinentalen“ Denkern zuschreiben lassen, in explizitem Anschluss an diese Denker von analytisch geschulten Philosophen rekonstruiert, ausgearbeitet oder verteidigt. Umgekehrt finden „kontinentalen“ Schulen entstammende Philosophen Positionen interessant, die von ursprünglich „analytischen“ Kontexten entstammenden Theoretikern entwickelt werden.[2] Beispiele hierfür finden sich etwa in der Exegese der genannten Klassiker[3] oder in Debatten um Selbstbewusstsein,[4] Intentionalität und phänomenologische Themen überhaupt,[5] Idealismus[6] oder feministische Theorien[7]. Einer der Faktoren, die dies begünstigen, kann darin gesehen werden, dass viele anfänglich weitgehend maßgeblichen Vorannahmen[8] und methodische Vorgaben „analytischer“ Philosophen, wie etwa eine empiristische, metaphysikkritische oder sprachanalytische Orientierung spätestens seit den 1960er Jahren um die unterschiedlichsten Alternativen bereichert wurden.[9] Schon von Beginn an waren außerdem mehrere in analytischer Methodik geschulte und mit analytischen Debatten vertraute oder dort diskutierte Philosophen interessiert an „kontinentalen“ Traditionen.[10] Auch viele Autoren wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Bernard Bolzano oder Franz Brentano,[11] später beispielsweise Ludwig Wittgenstein oder William James und andere Pragmatisten[12], wurden sowohl für viele „analytische“ wie viele „kontinentale“ Philosophen wichtig.

Viele Theoretiker und Philosophiegeschichtler schlagen trotz solcher Tendenzen vor, an der Unterscheidung festzuhalten. Dabei wird beispielsweise hin und wieder betont, dass „analytische“ Philosophen sich eher an Sachfragen und Argumenten orientierten als an bestimmten Klassikern. Andererseits wird bisweilen ins Feld geführt, dass jeweils unterschiedliche Leitfiguren orientierend seien[13] oder der Unterschied an methodischen Vorgehensweisen festgemacht[14] wird, deren Charakterisierung gleichfalls strittig ist.[15] Typische Stereotype schreiben „analytischen“ Philosophen beispielsweise stärkeres Interesse an theoretischen Präzisierungen eng eingegrenzter Fragen[16] als an geschichtlichen,[17] kulturellen oder politischen Bedingungen zu, „kontinentalen“ Philosophen dagegen letzteres.

  • Peter Bieri: Was bleibt von der analytischen Philosophie? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 55, 2007, S. 333–344.
  • Anat Biletzki: Introduction: Bridging the Analytic-Continental Divide. In: International Journal of Philosophical Studies. 9/3, 2001, S. 291–294.
  • David E. Cooper: Analytical and Continental Philosophy. In: Proceedings of the Aristotelian Society. 94, 1994.
  • Simon Critchley, William R. Schroeder (Hrsg.): A Companion to Continental Philosophy. Blackwell, Oxford 1998.
  • Simon Critchley: Continental Philosophy: a Very Short Introduction. Oxford University Press, Oxford 2001.
  • Andrew Cutrofello: Continental Philosophy: a Contemporary Introduction. Routledge, London 2005.
  • Pascal Engel (Hrsg.): Stanford French Review. 17/2–3 (1993), Special number: Philosophy and the Analytic-Continental Divide
  • Michael Friedman: A Parting of the Ways: Carnap, Cassirer, and Heidegger. Chicago 2000. (dt. Michael Friedmann: Carnap. Cassirer. Heidegger. Geteilte Wege. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-16006-5. Vorwort)
  • Gottfried Gabriel: Kontinentales Erbe Und Analytische Methode. Nelson Goodman Und Die Tradition. In: Erkenntnis. 52/2, 2000, S. 185–198. doi:10.1023/A:1005557524926
  • Simon Glendinning (Hrsg.): Edinburgh Encyclopaedia of Continental Philosophy. Edinburgh University Press, Edinburgh 1999.
  • Simon Glendinning: The Idea of Continental Philosophy. Edinburgh University Press, Edinburgh 2006.
  • Hans-Johann Glock: Could anything be wrong with analytic Philosophy? In: Grazer Philosophische Studien. 74 2007, S. 215–237.
  • Hans-Johann Glock: Analytic Philosophy: Wittgenstein and After. In: D. Moran (Hrsg.): A Companion to Twentieth-Century Philosophy. Routledge, London 2007.
  • Hans-Johann Glock: What is Analytic Philosophy? Cambridge University Press, Cambridge 2008.
  • Richard Kearney (Hrsg.): Continental Philosophy in the Twentieth Century. (= Routledge History of Philosophy. Band 8). Routledge, London 1994.
  • Brian Leiter, Michael Rosen (Hrsg.): Oxford Handbook of Continental Philosophy. Oxford University Press, Oxford 2007, ISBN 978-0-19-923409-7.
  • Neil Levy: Analytic and Continental Philosophy: Explaining the Differences. In: Metaphilosophy. 34/3, 2003, S. 284–304. doi:10.1111/1467-9973.00274
  • John Mullarkey: Post-Continental Philosophy: an Outline. Continuum, London 2007.
  • Kevin Mulligan: On the History of Continental Philosophy. (Memento vom 13. Mai 2013 im Internet Archive) (PDF-Datei; 182 kB). In: Topoi. 10/2, 1991, S. 115–120.
  • Kevin Mulligan: The great divide. (Memento vom 22. März 2013 im Internet Archive) (PDF-Datei; 110 kB). In: The Times Literary Supplement, “The battle of the two schools”. 26. Juni 1998, S. 6–8.
  • Ludwig Nagl, Hugh J. Silverman (Hrsg.): Textualität der Philosophie – Philosophie und Literatur. Oldenbourg-Verlag, Wien/ München 1994, ISBN 3-486-55990-7. (Dieser Band enthält ein Nachwort von Hugh J. Silverman, das sich mit der Genese der „Continental Philosophy“ in den USA beschäftigt.)
  • C. G. Prado (Hrsg.): A House Divided: Comparing Analytic and Continental Philosophy. Humanity Books, 2003, ISBN 1-59102-105-7. Review von Samuel Wheeler
  • Michael Rosen: Continental Philosophy from Hegel. In: A. C. Grayling (Hrsg.): Philosophy 2: Further Through the Subject. Oxford University Press, Oxford 1998, S. 663–704.
  • M. Sandbothe (Hrsg.): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.
  • William Schroeder: Continental Philosophy: a Critical Approach. Blackwell, Oxford 2005.
  • Charles E. Scott, Arleen B. Dallery, P. Holley Roberts (Hrsg.): Crises in Continental Philosophy. SUNY Press, Albany 1990.
  • Barry Smith (Hrsg.): Continental Philosophy: For and Against. In: The Monist. 82/2, 1999.
  • Robert C. Solomon, David L. Sherman (Hrsg.): Blackwell Guide to Continental Philosophy. Blackwell, Oxford 2003.
  • Robert C. Solomon: Continental Philosophy since 1750: the Rise and Fall of the Self. (= Oxford History of Philosophy. Band 7). Oxford University Press, Oxford 1988.
  • James R. Watson (Hrsg.): Portraits of Contemporary American Continental Philosophers. Bloomington, Indiana UP 1999.
  1. Dies betont beispielsweise Brian Leiter in seinem bei blackwell verlegten Report von 2006–2008 (Memento des Originals vom 27. September 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.philosophicalgourmet.com: „The conventional demarcation of „analytic“ versus „Continental“ philosophy has become less and less meaningful. With the demise of analytic philosophy as a substantive research program since the 1960s ... „analytic“ simply demarcates a style of scholarship, writing and thinking“
  2. Ein extremes Beispiel ist Richard Rortys Entwicklung von Anleihen an z. B. Wilfrid Sellars zur Verteidigung kulturalistischer relativistischer Positionen; vgl. ausführlicher Bjørn Ramberg: Richard Rorty. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
  3. Beispiele sind etwa die Studien von Robert Brandom, Tom Rockmore, Brian Leiter, John Richardson, Barry Smith, Hubert Dreyfus, Dagfinn Føllesdal u. a.
  4. Ein im deutschen Sprachraum relativ bekanntes Beispiel sind Manfred Franks Versuche, „kontinentale“ und „analytische“ Theorien des Selbstbewusstseins aufeinander zu beziehen (wie beispielsweise in Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart 1991), phasenweise auch Schriften von Dieter Henrich.
  5. Exemplarisch illustrieren dies etwa die von Hubert Dreyfus / H. Hall (Husserl, Intentionality and Cognitive Science. Cambridge 1982) D. W. Smith / R. McIntyre (Husserl and Intentionality, Dordrecht-Boston 1982) hg. Kompendien.
  6. Beispielsweise in Arbeiten von Tom Rockmore oder Timothy Sprigge.
  7. Vgl. beispielsweise Intersections Between Analytic and Continental Feminism. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.Vorlage:SEP/Wartung/Parameter 1 und Parameter 2 und nicht Parameter 3
  8. Deutlich betont beispielsweise W. Löffler in der jesuitischen Zeitschrift Stimmen der Zeit, dass das Klischee, analytische Philosophen seien nur „Sprachanalytiker, Formalisten, Atheisten und Naturalisten“ schon lange haltlos sei. (Wer hat Angst vor analytischer Philosophie? Zu einem immer noch getrübten Verhältnis, Stimmen der Zeit 6/2007, S. 375–388).
  9. Vielzitierte Beispiele sind Quines Kritiken an Zwei Dogmen des Empirismus (1951) und seine Rehabilitation von Ontologie durch die Aufmerksamkeit auf ontologische Commitments etwa für Mathematik und dadurch auch Physik (Was es gibt, 1948). Gabriel 2000, Hilary Putnam (u. a. in Pragmatismus – eine offene Frage, 1995, Ethics Without Ontology, 2004 und vielerorts) u. a. betonen z. B. Einflüsse des amerikanischen Pragmatismus.
  10. So beispielsweise die teils durch Wittgenstein und Thomas von Aquin beeinflussten und auch moral- und religionsphilosophische Themen verfolgenden Philosophen Elizabeth Anscombe, Peter Geach, auch etwa der britische Idealist John McTaggart Ellis McTaggart
  11. Der Einfluss letzterer wurde z. B. von Barry Smith, Kevin Mulligan und Daniel von Wachter betont
  12. Vgl. beispielsweise die von Sandbothe 2000 hg. Sammlung
  13. Vgl. beispielsweise die von Mulligan 1998 aufgelisteten jeweiligen „Helden“.
  14. So beispielsweise bei Leiter, Report 2006–2008, Sektionen What the Rankings mean (Memento des Originals vom 27. September 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.philosophicalgourmet.com und “Analytic” and “Continental” Philosophy (Memento des Originals vom 15. November 2006 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.philosophicalgourmet.com
  15. Beckermann 2007 beispielsweise diskutiert Kriterien wie „Klarheit, gedankliche Übersicht und das Gewicht von Argumenten“ und meint, solche ließen sich nicht als Unterscheidungskriterium heranziehen: „die interessante analytische Philosophie“ sei „nicht deshalb interessant ..., weil sie analytisch ist, sondern weil sie gute Philosophie ist“.
  16. Levy 2003 beispielsweise geht so weit, analytische Philosophie bewege sich innerhalb eines bestimmten „Paradigmas“ (im Sinne von Thomas S. Kuhn), während kontinentale Philosophie weniger stark an geteilten Vorannahmen, Problemen, Methoden und Herangehensweisen zehre.
  17. Vgl. beispielsweise Kurt Rudolf Fischer / Franz Martin Wimmer: Das historische Bewusstsein in der Analytischen Philosophie. In: Ludwig Nagl, Richard Heinrich (Hrsg.): Wo steht die Analytische Philosophie heute? Wien/ München 1986.