Patriziergesellschaft

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Eine Patriziergesellschaft ist der Zusammenschluss von Mitgliedern einer mittelalterlichen deutschen städtischen Oberschicht – „die Geschlechter“ genannt –, bestehend aus Angehörigen des niedrigen Adels, ritterlichen Ministerialen des Stadtherrn und wohlhabenden Kaufherren. Patrizier waren Kaufleute, die sich – im Gegensatz zu denjenigen, die „nach Elle, Pfund und Lot“ verkauften – ausschließlich dem Groß- und Fernhandel widmeten.

Zweck dieser Vereinigung war in erster Linie die Sicherung der Kontinuität sowohl unmittelbar der Stadtpolitik als auch mittelbar des eigenen Machterhalts, daneben oft auch das Betreiben von gemeinsamen Geschäften, insbesondere im risikoreichen Fernhandel.

Die Großzunft am Memminger Marktplatz. Ehemaliges Versammlungs- und Ballhaus.
Das Haus Alt-Limpurg (links) der Gesellschaft Alten Limpurg in Frankfurt am Main, gegründet 1357 als Stubengesellschaft Zum Römer
Ehemaliger Sitz der Zirkelgesellschaft in Lübeck

Eine der ältesten Patriziergesellschaften, wenn nicht die älteste überhaupt, ist die im 12. Jahrhundert entstandene Richerzeche in Köln, deren Macht allerdings schon im 14. Jahrhundert wieder erlosch. Andere Patriziergesellschaften, die sich erst vom 14. Jahrhundert an gründeten, bestanden teilweise mit etlichen Wandlungen mehrere hundert Jahre lang bis zum Ende des Deutschen Reichs 1806. Einige Patriziergesellschaften bestehen bis heute fort, etwa in Frankfurt am Main die Gesellschaft Alten Limpurg, gegründet 1357 als Stubengesellschaft Zum Römer, und die (historisch etwas weniger elitäre) Gesellschaft Zum Frauenstein (von 1382), ferner etwa in Bern die Gesellschaft zum Distelzwang (um 1390) und in Zürich die Gesellschaft zur Constaffel (von 1336).

Patriziergesellschaften waren oft nach dem Muster von Stubengesellschaften oder Bruderschaften organisiert. Wo gemeinsames Vermögen erworben und an nachrückende Erben weiterzugeben war, wurde häufig die Rechtsform der Ganerbschaft gewählt. Wenn geschäftliche Risiken geteilt wurden, ähnelt die Rechtsform hingegen einem Vorläufer unserer heutigen Offenen Handelsgesellschaft. Die Gilden des Mittelalters sind entweder aus Patriziergesellschaften hervorgegangen oder bestanden größtenteils aus deren Mitgliedern. Im weiteren Sinn kann sogar die gesamte deutsche Hanse als Zusammenschluss von Patriziergesellschaften aufgefasst werden, deren zahlreiche Artushöfe im Ostseeraum auch als Versammlungsräume, namentlich der St.-Georgs-Bruderschaften, dienten. Hinzu kommt, dass Begriffe wie Gesellschaft, Gilde, Zunft, Amt, Innung, Brüderschaft damals oft nicht gegeneinander abgegrenzt und daher synonym verwendet wurden. Gesellschaftliche, geschäftliche, politische und religiöse Zwecke gingen oft Hand in Hand; in der erzbischöflichen Residenzstadt Trier etwa versammelten sich die Schöffen- und Patrizierfamilien in der als Pilgerbruderschaft gegründeten St. Jakobusbruderschaft Trier.

Bezeichnend ist, dass Patriziergesellschaften in jeder Weise „geschlossene Gesellschaften“ waren, was sich etwa ganz drastisch an dem 1521 aufgestellten Tanzstatut der Stadt Nürnberg erweist. Das bedeutet: Niemand konnte einer solchen Gesellschaft aus eigenem Willen beitreten, sondern Außenstehende wurden, wenn überhaupt, durch Kooptation der vorhandenen Mitglieder aufgenommen. Oft entschied gerade die Aufnahme in eine solche Gesellschaft über die Aufnahme ins Patriziat und damit über die Wahlfähigkeit in den Rat der Stadt. Die „Schwörbriefe“ der Gesellschaften glichen frühen Verfassungen, welche zum Beispiel die Sitzverteilung zwischen Patriziern und Zünften regelten. Durch diese Zusammenschlüsse und ihre verbrieften Rechte definierten sich in vielen Fällen die Patrizier erst als geschlossener eigener Stand.

Entsprechend restriktiv wurde die Heiratspolitik betrieben; die Ehe war also nur zwischen Personen zugelassen, deren Eltern sämtlich derselben Gesellschaft angehörten. Das geht so weit, dass – entgegen der in Historikerkreisen immer noch verbreiteten Ansicht, die „Altbürger“ hätten sich zur Festigung ihrer Position mit den königlichen Beamten, den Reichsministerialen, verbündet – sie dies tatsächlich nur in wenigen Fällen getan und noch seltener auch durch verwandtschaftliche Bande besiegelt haben. Denn weder entsprach die Tätigkeit eines Kaufmanns den Aufgaben oder dem Standesbewusstsein eines Ministerialen noch konnte dieser dem Kaufmann bei Einheirat in dessen Familie eine Mehrung seines Vermögens in Aussicht stellen, da er keine Handelsgeschäfte betrieb und sein Besitz lehnsgebunden blieb, sodass das beiderseitige Interesse an einer Verbindung eher gering blieb. Erst zum Ende des 13. Jahrhunderts begann sich die Trennungslinie zwischen Patriziat und Rittertum zu verwischen. Einige der angesehensten Nürnberger Patrizierfamilien waren zuvor staufische Ministerialen gewesen, die sich nach dem Ende der Stauferzeit aus dem zuvor zum Reichsgut gehörenden Umland, das sich nun die Burggrafen aneigneten, in die Stadt begaben, wo sie bald durch Fernhandel zu Reichtum kamen. Während die Reichsritter die Patrizier halb hochmütig, halb neidisch verachteten, nicht selten aber auch Kredit bei ihnen aufnahmen, bekämpften die patrizisch regierten Städte die verarmenden Raubritter.

Die Abgrenzung der Patrizier gegenüber dem Ritterstand ging so weit, dass solche unerwünschten Ehen der bürgerlichen Oberschicht mit Sanktionen versehen wurden. So hatte für eine Wiener Bürgerstochter eine Heirat mit einem miles, einem Dienstritter, den Verfall von Freiheit und Vermögen zur Folge; auch in Lübeck durfte eine Bürgerstochter in solchem Falle nur mitnehmen, was sie auf dem Leibe trug.

Im Laufe der Zeit wurden die meisten in solchen Gesellschaften vereinten Patrizierfamilien selbst adlig, jedoch nicht durch Verbindung mit Ministerialen, sondern durch Rangerhöhung infolge Verdienst, was stets mit einer entsprechenden Wappenbesserung einherging. Der Anspruch auf Geburtsadel war danach eine Art ungeschriebenes Gesetz, was beispielsweise in Nürnberg dazu führte, dass nach 1806, bei der Eingliederung des Patriziats in den bayerischen Adel, den meisten der „alten“ Familien die Aufnahme in die Freiherrenklasse gelang. Bezeichnenderweise gründete das bis dahin regierende Nürnberger Patriziat erst nach der Auflösung der alten Ständeordnung und der Eingliederung der Freien Reichsstadt in den bayerischen Staat 1799 eine eigene Interessenvertretung, den bis heute bestehenden Selekt des Nürnberger Patriziats, der zuvor aufgrund der faktischen Alleinherrschaft der Nürnberger Patrizierfamilien im Inneren Rat der Stadt nicht erforderlich gewesen war.

Bekannte Gesellschaften

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Haus zum Rüden (von 1348), bis heute Sitz der Gesellschaft zur Constaffel in Zürich
Gesellschaftshaus Zum Distelzwang, Bern

Die Zahl der Patriziergesellschaften, die es einmal gegeben hat, ist unüberschaubar; die meisten dieser Gesellschaften haben historisch nur wenige Spuren hinterlassen. Bekannt sind dagegen heute noch:

  • Lexikon des Mittelalters, 9 Bände, Metzler, Stuttgart 1999. ISBN 3-4760-1822-9. Hier insbesondere die Stichworte Braunschweig und Bistum Augsburg.
  • Edith Ennen: Die europäische Stadt des Mittelalters. Sammlung Vandenhoeck, Göttingen 1987.
  • Gerhard Fouquet u. a. (Hrsg.): Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten. Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-7995-6430-6.
  • Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter. 1250-1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988.
  • Rainer Koch: Grundlagen bürgerlicher Herrschaft. Verfassungs- und sozialgeschichtliche Studien zur bürgerlichen Gesellschaft in Frankfurt am Main (1612-1866). Wiesbaden 1983.
  • Hans Körner: Frankfurter Patrizier. Historisch-Genealogisches Handbuch der Adeligen Ganerbschaft des Hauses Alten-Limpurg zu Frankfurt am Main. München 1971.
  • Wolfgang Reinhard: Oligarchische Verflechtung und Konfession in oberdeutschen Städten. In Antoni Mączak (Hrsg.): Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. Oldenbourg, München 1988
  • Fritz und Luise Rörig: Die europäische Stadt und die Kultur des Bürgertums im Mittelalter. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1955.
  • Tatiana Sfedu: Museumsgründung und bürgerliches Selbstverständnis. Die Familie Leiner und das Rosgartenmuseum in Konstanz. Dissertation Universität Konstanz, Geisteswissenschaftliche Sektion, Fachbereich Geschichte und Soziologie, 2006, im Konstanzer Online-Publikations-System KOPS.